Die SP geht mit ihren gesundheitspolitischen Schwerpunkten auf die Sorgen der Bevölkerung ein

  • 30. April 2019

Der Zürcher Angelo Barrile ist Hausarzt und vertritt die SP im Nationalrat. Im Interview spricht er über die Anliegen seiner Patientinnen und Patienten, die Prämien-Entlastungs-Initiative und über die Gesundheitspolitik der bürgerlichen Mehrheit im Parlament.

Angelo, du bist als Hausarzt beinahe täglich im Austausch mit den Menschen. Neben gesundheitlichen Sorgen, was sind die Anliegen und Sorgen deiner Patientinnen und Patienten?
Nach den gesundheitlichen Sorgen folgen tatsächlich die Kosten. Danach fragen die Patientinnen und Patienten oft, wenn ich eine weitere Abklärung vorschlage. Nicht sehr dringende Untersuchungen werden manchmal auf später verschoben. Bei meiner Arbeit spreche ich natürlich nicht über Politisches, doch viele wissen, dass ich Nationalrat bin, und sprechen mich darauf an, ob ich denn nichts gegen die steigenden Kosten unternehmen könne. Ich merke, dass sie sich von unserem Parlament nicht ernst genommen fühlen. Oft höre ich dann, dass «die Lobbys» halt wichtiger seien. Als Milizpolitiker bekomme ich so die Sorgen der Bevölkerung mit, was mich natürlich freut. Es bestätigt mir auch, dass die SP mit ihren Schwerpunkten auf die Sorgen der Bevölkerung eingeht.

Erkennst du dabei einen Unterschied zwischen Personen mit hohen und tiefen Einkommen?
Ja. Ich erlebe häufig, dass Menschen früher in die Sprechstunde hätten kommen sollen, aber aus Angst vor den teuren Kosten darauf verzichtet haben. Sie können es sich schlichtweg nicht leisten. Auch verzichten Menschen mit tiefem Einkommen eher auf eine weitere Untersuchung als andere. Laut einer Studie des Unispitals Genf kommt dies viel häufiger vor als gedacht: Rund 15 % der kranken Menschen gehen nicht zum Arzt oder zur Ärztin, weil sie die Kosten scheuen – das ist jede siebte Person! In einem so reichen Land wie der Schweiz finde ich diese Zahl beschämend und sie macht mich betroffen. Sie bestätigt auch: Armut macht krank und Krankheit macht arm. Ein Teufelskreis, den es auch in der Schweiz gibt.

Armut macht krank und Krankheit macht arm.

Am 26. Februar hat die SP die Prämien-Entlastungs-Initiative (PEI) lanciert. Was will diese Initiative ändern?
Die PEI verlangt, dass nicht mehr als 10% des verfügbaren Haushaltseinkommens für die Krankenkassenprämien aufgewendet werden. Ich finde es absolut richtig, dass bei den Prämien angesetzt wird: Es handelt sich eigentlich um ein Versprechen, das nicht eingehalten wurde. Als 1996 das Krankenversicherungsgesetz eingeführt wurde, sprach der Bundesrat davon, dass ca. 8% des Einkommens für die Prämien aufzuwenden sein werden. Heute sind es durchschnittlich 14%. Je nach Familienkonstellation zahlt man sogar 20% nur für die Prämien, ohne eine ärztliche Konsultation beansprucht zu haben. Zudem gibt es Leute, die in der Schuldenfalle landen, nur weil sie ein bisschen zu viel für eine Prämienverbilligung verdienen. Die Initiative sorgt somit für eine Entlastung bei allen, die übermässig belastet werden. Natürlich ist die PEI nicht die einzige Lösung für die steigenden Gesundheitskosten – es gibt mehrere Puzzleteile. Die Prämienlast ist aber eines der dringendsten Probleme.

Die Initiative kommt bei den Menschen sehr gut an.

Wie soll die Prämien-Entlastungs-Initiative (PEI) finanziert werden?
Durch eine Stärkung der individuellen Prämienverbilligungen werden tiefe und mittlere Einkommen besser entlastet. Die Finanzierung dieser Unterstützung wird zu zwei Dritteln vom Bund übernommen, die Kantone finanzieren den Restbetrag. Ein Vergleich mit anderen OECD-Staaten zeigt, dass die Beteiligung der Versicherten an den Gesundheitskosten in der Schweiz bereits extrem hoch ist, und zwar rund 30% der gesamten Gesundheitskosten. Der Staat darf in der Schweiz also ruhig etwas mehr übernehmen. Ausserdem wäre es solidarischer und fairer, die Gesundheitskosten vermehrt mit Steuergeldern abzudecken. Natürlich würde dies mehr Umverteilung bedeuten, aber es geht auch um eine wichtige Prioritätensetzung. Wir haben genug Geld für neue Kampfjets, Autobahnen und Steuererleichterungen für Konzerne, aber kein Geld für jene Personen, die wirklich zu wenig haben?

In der gegenwärtigen Legislatur ist keine einzige Initiative angenommen worden. Was stimmt dich bei der PEI anders?
Ich war im März am Limmatplatz in Zürich und zeitweise sind die Menschen Schlange gestanden, um unterschreiben zu können – die Initiative kommt bei den Menschen sehr gut an! Das Bedürfnis nach der Initiative und auch das Wissen darüber sind vorhanden. Das überrascht nicht, denn die Gesundheitskosten sind laut Sorgenbarometer die zweitgrösste Sorge der Bevölkerung.

Man hört von bürgerlichen Politikerinnen und Politikern oft, dass das Kostenbewusstsein gestärkt werden muss. Was meinst du dazu?
Das tönt gut und schön, aber in der Realität ist es ganz einfach: Wenn du krank bist, bist du krank. Dann hilft dir ein gutes Kostenbewusstsein auch nicht weiter. Zu mir kommen die Menschen, weil sie krank sind oder befürchten, krank zu sein. Wenn man sie am Kommen hindert, geht es ihnen nicht besser. Wenn man einen grösseren Anteil selbst zahlen muss, hält das die Falschen davon ab, zum Arzt zu gehen. Bürgerliche übertreiben, wenn sie sagen, dass viele Leute sofort zum Arzt gingen. Dieser Anteil ist meiner Erfahrung nach klein. Im Gegenteil, ich merke ja, dass viele Personen mit tiefem Einkommen zu lange warten, bis sie zu mir kommen. Das Kostenbewusstsein ist in diesen Fällen also zu stark. Kostenbewusst sein, das tönt also einfach gut, die Praxis zeigt, dass es die Falschen trifft.

Wie hast du die gegenwärtige Legislatur mit der bürgerlichen Mehrheit in Punkto Gesundheitspolitik erlebt?
Wir haben die Auswirkungen der FDP-SVP-Mehrheit in verschiedenen Bereichen schmerzlich erfahren. Mehrmals wurde einfach «noch einer draufgelegt», weil irgendeine Lobby ihre Interessen durchsetzen konnte. So ist beispielsweise die Krankenkassenlobby in diesem Parlament stark vertreten, während andere Interessen – ich denke da an auch an die Patientenorganisationen – unter- oder gar nicht vertreten sind. Dieses Ungleichgewicht hat man mehrmals gesehen, etwa bei der Diskussion um die glücklicherweise gescheiterte automatische Erhöhung der Franchisen. Auch die Versicherungsspione sind Beispiele für die bürgerliche Dominanz. Eine weitere Enttäuschung war das Vorgehen beim Tabakproduktegesetz: Der Tabak- und der Wirtschaftslobby ging im Gesetzesentwurf die Einschränkung der Werbefreiheit für ihre Produkte zu weit. So wurde das Gesetz vom Parlament mit den angebrachten Vorschlägen wieder an den Bundesrat zurückgewiesen. Wirtschaftliche Interessen wurden über den Gesundheitsschutz der Jungen gestellt. Ein Skandal!

Angelo Barrile ist seit 2015 Nationalrat und Mitglied des Initiativkomitees der Prämien-Entlastungs-Initiative.

* Dieses Interview ist erschienen im links.ch Nr. 181 (April 2019), Mitgliederzeitschrift der SP Schweiz